Selbständig sein – von Trucks, Pornos und Träumen
Meinen ersten Traum von Selbständigkeit hatte ich als Schulkind. Mein Vater war vor meiner Geburt Fernfahrer und hat den Job meiner Mutter zu Liebe aufgegeben. Um das Familieneinkommen aufzustocken, ist er trotzdem oft kurze Strecken gefahren. In den Ferien durfte ich mit. Da saß ich als kleines Kind auf diesem wippenden Beifahrersitz auf einem dreckigen Lammfell, dass das kaputte Leder verdeckte. Es roch nach Motoröl, Käse- und Mettbrötchen, altem Zigarettenrauch, Tabak, Druckertinte von den vielen Begleitpapieren (ausgedruckt auf Endlospapier), nach Diesel und Gummiabrieb. Im Führerhaus lagen persönliche Gegenstände des Fahrers, der hier sonst seinen Arbeitsplatz hatte: Kuscheltiere, Zeitungen, Kugelschreiber, Snacks und leere Flaschen. Nicht nur der Geruch war einmalig, auch die Geräusche: Quietschen, das Zischen der Bremsanlage, das Starten des Motors, der alles zum Vibrieren brachte… Und diese gefühlte Gesetzlosigkeit, wenn du da oben sitzt und dich nicht einmal anschnallen musst. Immerhin gab es in den 80ern noch keine Gurtpflicht für LKW und demnach auch keine Gurte.
An diesen Tagen war ich etwas Besonderes. Ich war irgendwie erwachsen, wichtig. Ich stand über den Dingen – im wahrsten Sinne. Und ich hatte meinen Vater, den ich so selten hatte, weil er so viel arbeitete. Damals malte ich mir aus, das ich einen LKW-Führerschein mache und mir einen Truck kaufe. Einen amerikanischen, mit langer Schnauze und cooler Bemalung, wie in diesen wilden 80er-Jahre-Actionfilmen. Ich wollte selbständig sein und Aufträge annehmen, die mich durch die Welt schickten, „Strecke fahren“. Immer auf der Straße, immer „da oben“, immer frei und haltlos. Das war mein erster Traum von Selbständigkeit. Später wollte ich immerhin noch einen LKW-Fahrer heiraten. Ich war dann auch mit 17, 18 Jahren mit einem zusammen. Der ist heute Lufthansa-Pilot und mein bester Freund – aber das ist eine andere Geschichte.
Mit 19 Jahren stand ich plötzlich alleine mit einer viel zu großen Wohnung und ohne Einkünfte da. Das war so nicht geplant, aber mein großer Bruder, der mit mir eine WG gründen wollte, hatte das Projekt schon wieder verlassen, als wir noch gar nicht mit der Renovierung angefangen hatten. Die D-Mark wurde gerade abgelöst. Ich bekam 300 € von meinen Eltern, davon 154 € Kindergeld, der Rest Unterstützung. Damit war immerhin die Warmmiete gedeckt. Mein Vollzeit-Jahrespraktikum im Theater Hagen war unentgeltlich, also musste ein Job her, den ich in der Wochenzeitung fand. „Aushilfe in der Videothek, auf 325 €-Basis“. Ich verdiente 4,20 € in den ersten drei Monaten, danach 5,20 €. 4-Stunden-Schichten, wenn ich Glück hatte, bekam ich mal 8 Stunden, natürlich ohne Pause. Wir arbeiteten ja immer allein. Und wenn ich noch mehr Glück hatte, kam ich in Summe auch auf über 300 € im Monat. Für mich bedeutete das: Morgens zu Fuß zum Theater, dort bis nachmittags in der Dramaturgie, hinter der Bühne oder im Malersaal helfen, danach entweder von 16-20 Uhr oder von 20-24 Uhr in die Videothek. Für 5,20 € Stundenlohn mussten wir natürlich auch putzen. Das Klo, den Boden wischen, die Regale und hinter der Theke putzen, die Aschenbecher aussieben. Diese Standaschenbecher waren voller Sand, in dem unsere Kunden ihre Kippen ausdrückten. Manche spuckten hinein, in der Pornoecke wurde auch mal reingewichst. Nach Ladenschluss gingen wir mit einer Schaumkelle und einem Plastikeimer durch den Laden und siebten Kippen, Spucke- und Wichsklumpen aus. Einmal putzte eine Kollegin ein Regal, nahm dabei die VHS-Hüllen nacheinander hoch und plötzlich lief ihr aus einer der Hüllen Wichse den Unterarm hinab und in ihren Ärmel hinein. Hinter der Theke hatten wir einen Baseballschläger. Es wäre dennoch einfach gewesen, uns zu überfallen. Bevor ich dort arbeitete ist das sogar einmal passiert. Ein Typ bemerkte, dass er mit der Mitarbeiterin alleine war. Er sprang über die Theke, stürzte sich auf das Mädchen und riss ihr die Hose auf. In dem Moment kam ein Kunde hinein und hielt ihn von Schlimmerem ab. Ob der Baseballschläger danach kam oder schon lange da war, weiß ich nicht. Und trotz allem war der Notausgang versperrt und verrammelt und wir arbeiteten immer allein, bis Mitternacht. Die letzte halbe Stunde nach Ladenschluss bekamen wir nicht bezahlt. Kasse zählen, aufräumen, Licht aus. Und dann nachts alleine nach Hause laufen. Nicht selten fuhr ein Typ in seinem Auto in Schrittgeschwindigkeit neben mir her und beobachtete mich. Einmal nahm mich ein Stammkunde in seinem aufgemotzten Mazda mit. Er setzte mich nicht zu Hause ab, sondern fuhr vorbei auf die Autobahn, dort mit 240 km/h auf der linken Spur, kurbelte meine Rückenlehne runter und öffnete das Panoramadach. Ich hatte Todesangst, kam aber heile zu Hause an. Kurz darauf hatte er mit einer Freundin bei 80 km/h auf der Landstraße einen Unfall, der Reifen war geplatzt. Das Auto war Totalschaden, aber den beiden war nichts passiert.
Wir hatten viele Stammkunden. Vor allem bei den Pornos. Ein ausgemergelter Typ kam täglich morgens und abends und nahm jedes Mal drei Filme mit. Neben unserer war er noch Kunde in mindestens zwei anderen Videotheken. Leicht wunderlich, kaum eklig, aber sehr erstaunlich fand ich ihn. Erst heute weiß ich, das Pornosucht unglaublich schlimm sein muss. Ein anderer Stammkunde war sicherlich 2,00 m groß, hatte eine Vokuhila, klirrende Cowboystiefel und immer eine Lederjacke. Ohne die ging er auch an den schwülsten Hochsommertagen nicht vor die Tür. Er hatte einen gezwirbelten Oberlippenbart und machte sich besonders gerne an die jungen Mitarbeiterinnen ran. Einer erzählte er mal von einem Pilz an Händen und Füßen, was es besonders eklig machte, wenn er uns zur Begrüßung die Hand geben wollte. Mich fragte er, vor mehreren anderen Kunden, ob ich nicht mal mit ihm einen Kaffee trinken gehen würde. Mir lief es kalt den Rücken runter, aber ich konnte mit so etwas umgehen. Ein anderer Kunde setzte sich vormittags an die Theke und blieb manchmal für Stunden, einfach so, aus Einsamkeit und Langeweile. Wir hatten einen Pegeltrinker, den du auch mit so viel Promille noch deutlich verstehen konntest, da läge ich schon im Koma. Manche Kunden liehen sich Geld aus der Kasse, besonders zum Ende des Monats, meist für Filme oder Spiele, selten auch mal für Zigaretten oder Alkohol. Wir bekamen das Geld wieder, sobald es Geld vom Amt gab. Ein Kunde malte mir immer riesige Penisse auf den Ausleihschein, statt zu unterschreiben. Auch wenn seine Freundin daneben stand. Nur einmal kam eine junge Frau zu mir, um sich beraten zu lassen, welchen Porno sie sich ausleihen könne. Wenn Kunden meinten, das ihr ausgeliehener Film kaputt sei, konnten wir das direkt vor Ort prüfen. Nur bei Pornos nicht. Die durften wir nicht mit dem Kunden schauen, sondern mussten den Film mit nach Hause nehmen und dort prüfen. Ich habe mehr wunderliche, gute, schlechte, billige und abscheuliche Pornos gesehen und kenne mehr Fetische, als ihr es euch vorstellen könnt.
Wir hatten auch einen Spielautomaten im Laden, weshalb manche Typen sich auch um Mitternacht nicht rausschmeißen lassen wollten. Viel zu oft musste ich richtig laut werden oder mir Verstärkung holen. Nebenan war eine Spielothek, bei der wir regelmäßig Geld für die Kasse wechselten und weshalb wir dort zumindest die Mitarbeiterinnen kannten. Die waren nie allein.
Neben all dem war das bis heute der geilste Job, den ich je hatte. Ich durfte mir kostenlos Filme mitnehmen (was vor Streamingzeiten noch richtig viel wert war) und an manchen Tagen war so wenig los, dass ich mir ein oder zwei Filme während der Arbeit anschauen konnte. Ich hörte laut Metal im Laden und lernte ganz besondere Menschen und ihre Geschichten kennen. Das alleine arbeiten war gefährlich, aber eigentlich ganz angenehm. Nach 3,5 Jahren in dem Job machte ich kurz eine Pause, als ich meine zweite Ausbildung anfing, in der ich endlich Geld verdiente, aber ich hielt es nicht lange ohne die Videothek aus. Schließlich verlor ich den Job, als wir neue Chefs bekamen und mein eigener Alkoholkonsum ausartete, was negativ während meiner Schichten auffiel. Direkt zur Neueröffnung der Videothek klaute ich eine Sektflasche, die eigentlich für unsere Kunden gedacht war und trank sie im Park bei meinen Punkerfreunden. Ich war sauer, als ich merkte, dass ich nicht mehr zu meinen Schichten eingeteilt wurde und gab allen anderen die Schuld. Seit dieser Zeit träumte ich immer wieder von einem eigenen Laden, damals eine Videothek mit Café-Ecke, später ein 2nd-Hand-Laden mit Café-Ecke, zwischenzeitlich ein Elterncafé mit Spielecke, eine kleine Marketing-Agentur mit Merchandise-Ecke und Verkauf von Produkten meiner Agenturkunden und zuletzt ein Laden für Haustiere und Kinder – mit Café-Ecke, oder ohne, wie auch immer.
Ich war selbständig mit einer Art Marketing-Agentur und als Storeleiterin musste ich 2,5 Jahre so tun, als hätte ich meinen eigenen Laden. Aber letztlich bin ich doch wieder angestellt – oder immer noch.
Vielleicht sollte ich ein Trucker-Café mit Pornoecke eröffnen… Moment, es ist 2023. Ein Trucker*innen-Café. Einen Fast-Food-Truck mit langer Schnauze, bemalt mit queeren Superheld*innen, mit dem ich auf die Reise gehe. Ich denk‘ mal drüber nach. 😉
Was ist euer Traum? Was war euer bester oder schlimmster Job?