Kindheit

Von Statussymbolen, Pflasterkindern und Domestos-Hosen

Ein Baum voller benutzter Babywindeln. Das ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit. Wir wohnten in der zweiten Etage und schräg gegenüber stand dieser Baum, in dem die Windeln hingen. Irgendwer aus der Familie darüber warf sie beim Wickeln aus dem Fenster. Sie verfingen sich in den Zweigen und blieben dort dekorativ hängen. Jeder sprach darüber, niemand kümmerte sich.

Um in diese Wohnung gegenüber des Windelbaums ziehen zu können, brauchten wir einen Wohnberechtigungsschein. Meine Eltern mussten also beweisen, dass sie wenig genug verdienten, um mit anderen finanziell schwachen Menschen in einem Viertel leben zu dürfen. Dafür bekamen wir 80 qm Wohnfläche mit zwei Kinderzimmern.

Ich kann mich nicht erinnern, im Laufe meiner Grundschulzeit mit Statussymbolen in Berührung gekommen zu sein. Ich kannte das Gefühl nicht, sich über Dinge zu definieren. Ich war ein Pflasterkind. Und zwar eins, dessen Mutter das Pflaster auf die Brille klebt und nicht aufs Auge. Außerdem hatte ich immer einen hässlichen, kurzen Haarschnitt. Irgendwo hatte meine Mutter aufgeschnappt, dass Kinder dickeres Haar bekämen, wenn selbiges immer schön kurz geschnitten würde. Ich habe es gehasst. Einmal stand ich bei C&A am Palomino-Pferd, während meine Mutter nach Klamotten suchte. Ein dicker Junge kam auf mich zu, nahm meine Brille, brach einen Bügel ab und gab mir die Brille zurück. Die ganze Situation dauerte nur wenige Sekunden und er sprach kein Wort. Ich weiß nicht mehr, ob ich anfing zu weinen oder nur geschockt und ängstlich da stand. Als meine Mutter unmittelbar und besorgt angerauscht kam, war der Junge zwischen den Kleiderständern verschwunden. So ein Kind war ich also. Brille, kurze Haare, schüchtern und ängstlich. Kinder wie dieser Junge können das riechen.

So fuhr ich unschuldig mit meinem Barbie-Fahrrad durch die Straße. Vorne im Lenkrad-Körbchen Susi, mein Hamster. Einer von 13 Hamstern, die dabei rauskamen, als mein großer Bruder ein Teddyhamster-Männchen und ein Goldhamster-Weibchen haben durfte. Bis heute behauptet er, sie hätten sich durch das Käfiggitter gepaart. Die anderen 12 Baby-Hamster haben meine Eltern auf einem Feld ausgesetzt. Meine Mutter kam auf die Idee, sie das Klo runterzuspülen, was ich aber unverhofft mitbekam und weshalb ich laut schluchzend mitten im großen Flur unserer Wohnung stand. Sie hätte es nicht ernst gemeint. Niemand würde die Hamster im Klo runterspülen… Der grausame Schock hält bis heute an. Ich fuhr also mit Susi auf dem Fahrrad, wenn wir nicht auf der Wiese im Hof saßen. Dort, wo mir ein gehörloses Mädchen beibrachte, auf einem Grashalm zu tröten. Damals war die Wiese noch schön, im Sommer eingerahmt von riesigen Sonnenblumen und Rosensträuchern. Eine alte Dame pflegte die Beete und vergrub Kartoffelschalen zwischen den Wurzeln, damit die Regenwürmer nicht die Pflanzen fraßen. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Frau starb oder nur wegzog. Aber als sie nicht mehr da war, verschwanden die Rosen und Sonnenblumen und wichen alten Waschmaschinen, Mikrowellen, Kartons und anderem Müll.

In der Grundschule war ich ein einfaches Kind. Ab dem ersten Tag ging ich den Schulweg allein. Der Hinweg war unspektakulär. Der Rückweg führte uns entweder im großen Bogen über den Friedhof oder über eine Baustelle. Hierhin kam man nur, wenn man am Schulhof über einen Zaun kletterte, sich durch die Büsche schlug, einen Abhang auf dem Hintern runterrutschte und dann über das Dach einer alten Firma kletterte. Wer Dinge kaputt machen wollte, war hier richtig. Scheiben einschlagen, kleine Feuer legen, Schrott auseinandernehmen… Das Gebäude wurde eines Tages abgerissen, aber bis dahin ist dort viel passiert. Meine Freundin N. fiel einmal den Abhang runter und mit der Wirbelsäule auf ein Felsstück. Ich dachte, sie sei schwer verletzt oder tot, aber sie stand nach einer Weile wieder auf und wir erzählten es niemandem. Mein Freund H. spielte mal mit einer Blechdose. Irgendein flüssiges Zeug lief über seine Finger und verätzte seine Haut. Vermutlich hat auch er nie mit seinen Eltern darüber gesprochen. Beide hatten schwierige Elternhäuser. N. lebte allein mit ihrer alkoholkranken Mutter. Wir machten dort im Kinderzimmer, was wir wollten, während ihre Mutter sich in der Küche betrank. Eines Tages verbot meine Mutter mir plötzlich, N. weiter zu besuchen. Es dauerte nicht mehr lange und ihre Mutter brachte sich selbst um, indem sie aus dem Fenster sprang. Ich weiß nicht mehr viel über N., aber sie zog zu ihrem Vater und war dort scheinbar sehr glücklich. Er kaufte ihr sogar ein Pferd. Auch H.s Eltern waren geschieden, sein großer Bruder schon sehr früh kriminell. Sowohl den Bruder als auch den Vater traf ich später in meinen Zwanzigern zwischen Obdachlosen und Junkies wieder. Beide süchtig und ganz unten angekommen. Der Alte ruhig und besoffen, der Junge immer etwas aufgeregter, lauter und auf Drogen.

Aber ich wollte über Statussymbole sprechen, die mir damals kein Begriff waren. Bis ich in die Realschule kam. Das fünfte Schuljahr verlief noch unspektakulär. Wir mussten uns als Klasse finden und die Schule kennenlernen. Faszinierend waren Sheila und Daniela. Zwei Schülerinnen aus der Neunten, mit bunten Haaren und zerschnittenen Klamotten. So wollte ich mal werden. Im sechsten Schuljahr dann wurde mein Bewusstsein für soziale Klassen geschaffen. Levi’s Jeans, Pullis von Chiemsee, Jacken von Diesel, Shirts von Adidas. Verrückte Welt. Plötzlich wünschte man sich keine Barbies mehr, sondern Jeans für 160 DM, was damals ein Vermögen für meine Eltern war. Ich wurde wegen meiner Deichmann-Schuhe gehänselt, weil es keine echten Chucks waren. Eines Tages brachte mein Vater nachgemachte Chiemsee-Pullis vom Tschechen-Markt mit, die er einem Kollegen abkaufte. Ungefähr ein Jahr lang machte ich diesen Wahnsinn mit, der mir unglaublich viel Energie abverlangte. Ich wollte akzeptiert werden und dazugehören. Und dann kam ich über Umwege doch zu den Bunthaarigen. Ich zerschnitt meine Fake-Marken-Pullover und zog sie nur noch auf links an. Ich wusch sie auch nicht mehr, aus Angst, meine Mutter könnte wegen der zerschnittenen Klamotten ausrasten. Ich klaute ein Hundehalsband im Zoogeschäft, das ich mit einer Sicherheitsnadel um meinen Hals befestigte. Meine Markenjeans wurden mit einer Nagelschere so lange bearbeitet, bis Löcher entstanden (damals waren Löcher in Jeans noch Punkrock-Statement, kein Modetrend). Ich überzeugte meine Mutter, Domestos zu kaufen, worin ich die Jeans anschließend badete. Innerhalb von einem Jahr hatte ich die Welt der sozialen Klassen verinnerlicht, vergöttert und schließlich gehasst und bekämpft. Bis heute finde ich es unglaublich schwierig, wenn Menschen sich über Statussymbole definieren, was mich immun macht gegen Imponiergehabe und allergisch gegen Protz und Prasserei.

Vom Windelbaum zur Domestos-Hose. Ich bin am Ende dieses Textes und ganz woanders gelandet, als dort, wohin ich eigentlich wollte. Also gibt es wohl noch mehr zu erzählen. Aber nicht mehr heute.


Wie bist du groß geworden? Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht? Sozialer Brennpunkt oder Randlage? Dorf oder Großstadt? Worüber definierst du dich?

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